Wie man von Psychopharmaka herunterkommt
Matthias Seibt plädiert für einen stufenweisen Entzug
Dieser Beitrag wendet sich an Menschen, die sich aus der Psychopharmakai-Abhängigkeit lösen wollen. Dieser Wunsch kann Folge der am eigenen Körper und Geist erlebten “Neben”-Wirkungen sein; er kann aber auch aus der Lektüre kritischer Literatur resultieren, wie z.B. den Büchern von Peter Lehmann: (Der chemische Knebel. Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen, 1993); (Schöne neue Psychiatrie. Band 1: Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken, 1996; Band 2: Wie Psychopharmaka den Körper verändern, 1996); Joseph Zehentbauer: (Chemie für die Seele, 1997) oder Peter Breggin (Giftige Psychiatrie, Band 1 und 2, 1997). Mittlerweile erschien 2002 die 2. Auflage des von Peter Lehmann herausgegebenen Buchs Psychopharmaka absetzen. (Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Anti-depressiva, Lithium, Carbamazepin und Tranquilizern, 1998).
Diesem Artikel liegen sowohl eigene Erfahrungen wie auch Erfahrungen anderer Menschen zugrunde, sowie die 1986 in der Zeitschrift “Türspalt” erschienene Übersetzung aus “Dr. Caligari’s Psychiatric Drugs”.
Absetzen allein genügt oft nicht
Psychopharmaka werden wie andere Drogen (Von Alkohol bis zu Kokain und Heroin) hauptsächlich zur Betäubung des Leidens an persönlichen und/oder sozialen Problemen eingesetzt. Diese Probleme stellen sich während oder nach dem Absetzen dem betroffenen Menschen häufig wieder massiv in den Blick. Wer an unbefriedigenden oder sogar fürchterlichen Verhältnissen leidet, sollte sich über das eigene “Ausrasten” nicht wundern. Es gibt keine Psychosen, es gibt nur die individuelle Verrücktheit, mit der Menschen auf ihre aktuelle Umwelt, schreckliche Erlebnisse der Vergangenheit oder auch den eigenen Umgang mit sich selbst (z.B. selbstabwertende Gedanken) reagieren. Es kann also ratsam sein, vor dem Absetzen eine Änderung der Lebensumstände (Wohnen, Arbeit, soziale Kontakte) oder des Umgangs mit sich selbst durchzuführen .
Plötzliches Absetzen kann gefährlich sein
Viele Menschen nehmen die erste sich bietende Gelegenheit, um die Einnahme der “Medikamente” zu beenden. Dies ist angesichts der verheerenden “Neben”-Wirkungen verständlich, trotzdem aber meistens nicht der beste Weg. Typischerweise fördern manche Psychiater/innen diese riskante Form des Absetzens noch, indem sie auf an den “Medikamenten” geäußerte Kritik mit einem saloppen “dann lassen Sie sie doch einfach weg” antworten.
Bei Tranquilizern (z.B. Valium, Librium, Adumbran, Lexotanil, Tavor) sowie Schlaf- und Beruhigungsmitteln (Sedativa, Barbiturate, Hypnotica) kann es bei plötzlichem Absetzen sogar zu lebensgefährlichen Krampfanfällen kommen. Dies ist bei Lithium, Anti-depressiva oder Neuroleptika nicht der Fall, doch auch hier empfehle ich unbedingt einen stufenweisen Entzug. Wer jahrelang Psychopharmaka geschluckt hat, sollte durchaus einige Monate Zeit investieren. Schließlich hat er/sie der Psychiatrie Jahre eingeräumt, ohne dass eine Problemlösung erfolgte. Warum also von einem anderen Weg Wunder verlangen?
Allmählicher und stufenweiser Entzug
Der beste und sicherste Weg ist der stufenweise Entzug. Ein Beispiel: Sie nehmen 200 mg Neurocil pro Tag ein. Der erste Schritt besteht z.B. darin, die Tagesdosis auf 175 mg zu verringern. Dann eine bis sechs Wochen abwarten, ob sich Entzugserscheinungen einstellen. Wenn nicht, die Tagesdosis auf 150 mg verringern. Wieder eine bis sechs Wochen abwarten. Falls wiederum keine Entzugserscheinungen zu spüren sind, den nächsten Schritt vornehmen usw. Sollten sich Entzugserscheinungen einstellen, wie z.B. Unruhe oder Schlaflosigkeit, abwarten, bis diese abgeklungen sind, bevor Sie daran denken, den nächsten Absetzschritt vorzunehmen.
Werden die Entzugserscheinungen unerträglich, so dass Sie ein neuerliches “Ausrasten” befürchten, lieber zu einer vorhergehenden Stufe des Entzugs zurückkehren. Eine momentane Erhöhung der Drogeneinnahme ist auf jeden Fall einem Anstaltsaufenthalt mit einem vielfachen der Dosis der “freiwillig” eingenommenen “Medikamente“ vorzuziehen.
Es kann auch sein, dass der erste Teil des Entzugs völlig problemlos verläuft, dass jedoch beim Absetzen der letzten Tablette (in diesem Beispiel 25 mg Neurocil) Schwierigkeiten auftreten. Hier ist es sinnvoll, den letzten Schritt nochmals zu unterteilen. Ein Beispiel: Zuerst auf eine ¾ 25 mg Tablette heruntergehen, abwarten - wenn keine Entzugserscheinungen auftreten auf ½ Tablette usw. Bei Tabletten, die sich nicht unterteilen lassen, kann man jeden 5. Tag die Tablette weglassen, anschließend jeden 4. Tag ... wenn man jeden 2. Tag die Tablette nimmt, kann dazu übergegangen werden, sie jeden 3. Tag zu nehmen, dann jeden 4. Tag usw. So kann der Entzug auch bei Niedrigdosierungen noch in vielen Stufen erfolgen.
Entzug von Depot-Spritzen
Depotspritzen stellen eine besonders perfide Form der Abhängigmachung dar. Hier ist eine Reduktion nur unter Mithilfe des Psychiaters / der Psychiaterin möglich. Auch hier gilt die Regel: Schrittweise die Dosis reduzieren - als letzten Schritt die Abstände zwischen den Depot–Spritzen verringern. Unter Umständen ist auch als erster Schritt der Umstieg auf Tabletten zu empfehlen, da sich diese besser nach dem momentanen Befinden dosieren lassen.
Wenn der Psychiater / die Psychiaterin nicht mitspielt: Jeder Arzt und jede Ärztin darf Neuroleptika und andere Psychopharmaka verschreiben. Da es für viele Menschen beruhigend wirkt, einen “Fach”-Menschen während des Entzugs als Ansprechpartner/in zu haben, sollte ein eventuell notwendiger Arztwechsel vor Beginn des Entzugs erfolgen. Oft kann - nicht nur bei Depot–Spritzen - Unterstützung durch eine/n Heil-praktiker/in sinnvoll sein. Auch bei verschiedenen Meditations- und Yogaarten gibt es ermutigende Berichte.
Kann man während oder nach einem Entzug durchdrehen ?
Ja. Auch Monate oder Jahren nach einem erfolgreichen Entzug ist ein erneutes “Ausrasten” möglich. Wenn Gespräche mit Freund/inn/en keine Erleichterung verschaffen oder nicht möglich sind, ist die Einnahme einer Tablette oft ein kleineres Übel als der Anstaltsaufenthalt. Wohlgemerkt: Ein kleineres Übel.
In der psychiatrischen Literatur ist bekannt, dass auch kleinste Dosen Neuroleptika in Einzelfällen lebens-gefährliche Zungen–Schlund–Krämpfe auslösen können. Andererseits ist auch ein Anstaltsaufenthalt mit vielen Nachteilen und fast immer mit “Medikation” verbunden. Wer sich von einer hohen Dosis “Medikamente” auf Null dosiert hat, wird oftmals erstaunt feststellen, wie stark eine ganze oder halbe Tablette auf einen giftfreien Körper wirkt.
Umweltfaktoren
Es ist sehr wichtig, während des “Medikamenten” - Entzugs eine stabile Lebenssituation zu haben. Sie können sich glücklich schätzen, wenn Sie unter Menschen sind, die das Wesen des “Medikamenten” - Entzugs verstehen und Ihre Anstrengungen unterstützen. Wenn Sie unter Menschen sein müssen, die ihre Entscheidung missbilligen, von den “Medikamenten” loszukommen: Bestehen Sie darauf, dass diese Ihr Recht dazu respektieren. Natürlich ist es besser, wenn Sie während des Entzugs für sich alleine als mit nicht–mitfühlenden oder feindlich eingestellten Menschen zusammen sind. Viele Menschen sind allein von den “Medikamenten” losgekommen.
Nachbemerkung
Dieser Text bezieht sich vorwiegend auf den Neuroleptika–Entzug. Viele der darin gemachten Aussagen sind aber ohne weiteres auf andere Psychopharmaka–Klassen wie Tranquilizer, Lithium, Antidepressiva und Barbiturate übertragbar. Bei Barbituraten und Tranquilizern hat sogar die “natur”-wissenschaftliche Medizin inzwischen teilweise eingesehen, dass diese suchtbildend sind und bietet den Entzug in eigenen Kliniken an. Es ist allerdings Geschmacksfrage, ob man sich dem medizinisch – industriellen Komplex, der die Sucht erst erzeugt hat, ein weiteres Mal anvertrauen möchte.
Ein starkes Argument gegen jedwede Psychopharmaka und für einen Entzug ist, dass Menschen unter Psychopharmaka verlernen, ihre Gefühle und Gedanken zu steuern. Dies muss beim Entzug unter Umständen erst wieder gelernt werden.
Das Wichtigste
Da jeder Mensch anders ist, lässt sich nichts verallgemeinern. Jede/r muss selbst herausfinden, was ihr/ihm gut tut. Dazu ist eine gewisse Selbstbeobachtung notwendig, die erlernbar ist.
Der häufigste Fehler
Man fühlt sich bereits nach dem ersten oder zweiten Schritt des Absetzens besser. Man denkt: Wie gut muss es mir erst gehen, wenn ich gar nichts mehr nehme? Der Rest der “Medikamente” wird schlagartig (oder auch nur zu schnell) abgesetzt, man dreht durch, oft mit erneutem Anstaltsaufenthalt.
Ein weiteres wichtiges Argument für langsames Absetzen: Das Auftreten der bislang unbehandelbaren Spätdyskinesien (Spätbewegungsstörungen) wird durch rasches Absetzen begünstigt.
Also: langsam!