„Freiheit heilt!“
Dies war bekanntlich der von italienischen Psychiatriereformern zu uns herüberschallende Ruf Ende der 70er Jahre. Damals, bei der per Gesetz verfügten Abschaffung der Irrenanstalten in Italien und den daran als Leitbild orientierten, durchaus ermutigenden Anfängen der Psychiatriereform in Deutschland. Heute, fast 30 Jahre später, ist es vielleicht an der Zeit, zu fragen, was denn aus dieser Reformbewegung und vor allem aus dieser Erkenntnis hier bei uns geworden ist.
Nun, was die Reform angeht, so scheint sie inzwischen das Los all jener Veränderungsbemühungen zu teilen, die nicht tief genug in die alten Strukturen eingreifen, die nicht radikal genug die bestehenden Verhältnisse in Frage stellen und die nicht weit genug nach vorne blicken: Sie landen schon recht bald auf der Verwaltungsebene, dort, wo in kleiner Münze abgerechnet wird, und wo das reibungslose Funktionieren des Bestehenden und die vordergründige Frage, was das noch nicht Verwirklichte denn kostet, die einzige und viel zu kurze Richtschnur zu sein scheint. Die Alltagspraxis, in der das Abweichende, auch in der Psychiatrie, nur stört, lässt eine wirkliche Reform nicht zu, allenfalls ein Renovieren. Sie glättet alles nach und nach, bis fast nichts mehr an den ursprünglichen Veränderungswillen und die einstigen Ziele erinnert. Zeugnis hierfür und ihr Stein gewordener Ausdruck sind für mich die aus der Anfängen der Reform stammenden neuen „Bettenburgen“, wie sie nun überall in den „verkleinerten“ Großkliniken zu finden sind, und die ja nun wirklich nicht für einen Neuanfang in der deutschen Psychiatrie stehen. Das Alte hat lediglich eine neue Tapete gekriegt.
Aus der ursprünglich klaren Forderung der deutschen Reformer nach Auflösung der psychiatrischen Anstalten wurde dann schon bald die „Verkleinerung der psychiatrischen Großkliniken“, was nun wieder etwas ganz anderes ist, und es erinnert mich schon ein wenig an den rätselhaften Parolenwechsel der Wende-Demonstranten 1990, wie sich da aus dem trotzigen: „Wir sind das Volk!“, auf einmal der alles übertönende Fahnenschwenkerruf: „Wir sind ein Volk!“ entwickelte. Den Rest kennt jeder. Endgültig auf der Verwaltungsschiene angekommen war die Psychiatriereform dann mit der „Sektorisierung“, die lediglich nur noch eine Schreibtischoperation war, die niemandem mehr wirklich weg tat, und die bestehenden Verhältnisse nicht antastete.
Zwischenzeitlich wird sogar über die Umwandlung der psychiatrischen Fachkrankenhäuser unter Zerschlagung des bisher noch erkennbaren Regionalbezuges in psychiatrische Spezialkliniken nachgedacht. Solche aus Fachkreisen stammenden Ideenträger mögen damit ja einem gerade herrschenden Trend zur weiteren Ausgrenzung bzw. Entwurzelung bestimmter Problemgruppen in der Bevölkerung folgen, mit Sozialpsychiatrie hätte das dann aber nichts mehr zu tun. Ich halte solche Bestrebungen vielmehr für inhuman und unter fachlichen Gesichtspunkten für nicht vertretbar, allenfalls mit kurzfristigen wirtschaftlichen Erwägungen und Fragen des Bestandserhaltes erklärbar.
Analog dazu gewinnt derzeit augenscheinlich die Riege der psychiatrisch tätigen Ärzte, deren biologistische Denk- und Arbeitsweise ihre Entsprechung in der Wahl ihrer höchst einseitigen Behandlungsmittel findet, immer mehr an Bedeutung. Bei Psychosen ist dies vor allem die Medikamentengruppe der Neuroleptika, diese möglichst auch noch in der vermeintlich vorbeugenden Depot- bzw. Dauerbehandlungsform. Neue, nebenwirkungsärmere Medikamentenentwicklungen sind zusätzlich auf breiter Front in der Anwendung. Gerade entstehende psychiatrische Früherkennungszentren, deren Aufgabe und Ziel die Erfassung und frühzeitige medikamentöse Einstellung vorgeblich psychosegefährdeter Kinder und Jugendlicher auf eine Dauermedikation ist, die den Ausbruch von Psychosen verhindern sollen, unterstreichen den vorherrschenden Trend zum biologistischen Ansatz in der psychiatrischen Praxis und Forschung.
In die gleiche Richtung weisen m. E. die so genannten „Kompetenznetze“ zum Thema Schizophrenie und Depression. All diese neuen Initiativen seitens der etablierten Psychiatrie und Pharmaforschung, die überdies kräftige finanzielle Förderung seitens der Politik und publizistische Rückenstärkung durch die Medien erfahren, gehen offenbar von der These aus, dass allein nachweisbare Stoffwechselprozesse im Gehirn Auslöser und Ursache von psychischen Erkrankungen sind, und allein diese einer Behandlung mit psychogenen Substanzen zugänglich sind. Hier wird vermutlich zur Zeit bestimmt, welche Fragen wohl auf absehbare Zeit in der von dieser Seite betriebenen Forschung untersucht und beantwortet werden sollen. Ich frage mich, ob nicht solches Forschen zwangsläufig zu Ergebnissen führt, die den Einsatz ihrer Sponsoren auch lohnen.
Bedeutet dies alles nun das Ende und die Blockade jeder anderen, darüber hinausgehenden und die Person des Erkrankten und dessen psychische Potenziale in den Mittelpunkt stellenden Entwicklung in der Psychiatrie und in deren unabhängiger Begleitforschung? Ich glaube nicht. Es gibt inzwischen eine organisierte Gruppierung im psychiatrischen System, der auch ich angehöre, die dies nicht mehr zulassen wird, die gerade dabei ist, ihre verändernde Kraft zu entdecken: die Psychiatrie-Erfahrenen selbst. „Freiheit heilt!“ umschreibt heute für mich vor allem einen Entwicklungsprozess vieler Psychiatrie-Erfahrener auf der individuellen Ebene, die ihr Heil schon längst nicht mehr ausschließlich in der medizinisch orientierten Schulpsychiatrie, in den psychiatrischen Institutionen suchen und keineswegs nur an medikamentös erzeugte Symptomfreiheit denken, wenn von Freiheit die Rede ist, sondern dies durchaus existenziell verstehen. Als Befreiung von psychiatrischer Bevormundung, in der möglichen Freisetzung der in jedem Individuum angelegten psychischen Selbstheilungskräfte; als die Erlangung von Freiheit in der selbstverantworteten Existenz.
„Und wie könnte er aussehen, dieser selbstbestimmte Weg ins Leben?“
Nach meinen Dafürhalten wäre dies vor allem über eine in den verschiedensten Formen der Psychotherapie erreichbare Veränderung des inneren Bildes von sich selbst und dessen Annäherung an die real bestehenden, persönlichen Lebensbedingungen möglich. Diese Angleichung vollzieht sich in einem meist längerfristigen Prozess, dessen mögliche zweifache heilsame Wirkung darin besteht, dass beides, der Blick auf sich selbst und die äußeren Lebensumstände in Bewegung geraten, sich aus Erstarrungen lösen. Jegliche Therapie, vor allem Psychotherapie verstehe ich also als die Möglichkeit, mit der Hilfe eines anderen seine Selbsthilfemöglichkeiten zu aktivieren. So kann nun auch im Austausch zwischen dem Patienten und dem Therapeuten versucht werden, die einer psychischen Erkrankung zu Grunde liegenden inneren Konflikte zu erkennen und aufzuarbeiten. Oder einfacher ausgedrückt: die Hilfe liegt in der Aussöhnung mit sich selbst. Die Rolle des Therapeuten bzw. des psychiatrisch Tätigen hierbei ist die eines verständnisvollen Vermittlers, also nicht desjenigen, der etwas „verordnet“. Die selbst verspürte Notwendigkeit und der Wunsch des Patienten, zu einem harmonischeren Verhältnis zu sich selbst zu kommen und der feste Wille dazu, ist bereits der erste Schritt zur Heilung und gleichzeitig unabdingbare Voraussetzung. Einen anderen Weg gibt es vermutlich nicht.
Eine Psychose ist für mich so etwas, wie ein Geburtsvorgang, bei dem am Schluss ja bekanntlich die Abnabelung (Selbstbestimmung) steht. Gelungene Psychotherapie sorgt hier also für den guten Verlauf, ist Geburtshilfe, der Klaps auf den Hintern, der den ersten befreiten Schrei auslöst. Psychosentherapie sollte m. E. demnach Psychotherapie sein. Medikamentös erzeugte Symptomfreiheit oder besser Symptomverdrängung genügt also nicht, ist aber bis zu einem gewissen Grad vielleicht Voraussetzung hierfür. Die Praxis zeigt aber, dass die meisten der als niedergelassene Nervenärzte arbeitenden Mediziner – und sicher nicht nur die – sich bei ihrer Tätigkeit auf die medikamentös bewirkte vorübergehende Symptombeseitigung bzw. -besserung beschränken müssen. Etwas anderes ließen ihre Ausbildung und wirtschaftliche Erwägungen, auch seitens der Kostenträger, vermutlich gar nicht zu. Psychotherapie gehört eben nicht zum Standardangebot für psychisch Kranke, ist aber nichtsdestoweniger abrechenbare Krankenkassenleistung, wird aber wohl leider ziemlich schlecht bezahlt. Finanzierbar sind natürlich auch die dahin führenden, vorbereitenden Behandlungsschritte. Richtig teuer ist eigentlich nur die Chronifizierung.
Die Abhängigkeit von Psychopharmaka, die ja eigentlich für sich besehen schon wieder einen Erkrankungszustand darstellt, vor allem wenn man die zu erwartenden Folgeschädigungen bei unsachgemäßer Dauermedikation bedenkt, bleibt dagegen in der Regel vielfach über Jahrzehnte, wenn nicht gar lebenslang erhalten. Der Patient wird so lediglich „versorgt“; von Heilung, die durchaus möglich wäre, mag man unter diesen Umständen gar nicht reden, von Freiheit noch viel weniger. Da aber diese Art der Hilfe in Wahrheit niemandem nützt, erst recht nicht jenen, die wirkliche Hilfe bräuchten, verringert sich natürlich auch niemals deren Hilfebedarf, im Gegenteil. Das ist die Stunde der Einrichtungsplaner, und es entstehen, zusätzlich zu den bereits vorhandenen stationären psychiatrischen Einrichtungen, die der Akutbehandlung dienen, neue Institutionen, z. B. Übergangs- und Langzeitheime, Außenwohngruppen, Tages- und Begegnungsstätten. Ein enges Netz von mehr oder weniger gemeindenahen psychiatrischen Hilfen und Institutionen tut sich auf, in dem man sich, erst einmal als Hilfesuchender darin erfasst, nur allzu leicht ausweglos verfängt. Es ist doch alles da, was man braucht, um u. U. fortan ein Leben gänzlich in der Obhut der Psychiatrie und in Abhängigkeit zu ihr zu führen. In dem gesonderten Arbeits- und Beschäftigungsbereich für psychisch Behinderte findet dann diese kaum noch ein Schlupfloch lassende und die gesellschaftliche Ausgrenzung zementierende Wirkung der psychiatrischen Versorgung unter dem Vorzeichen der Integration und der Rehabilitation seine Fortsetzung.
Diese beiden aus Profimund reichlich oft zu hörenden Begriffe sagen ja an sich noch nichts darüber aus, ob jemand wirklich wieder rehabilitiert und in die Gesellschaft integriert wurde. Dient deren Verwendung in solchen Einrichtungen also dazu, diesen Sachverhalt zu verschleiern? So lange sich jemand in einer Einrichtung befindet, verhält er sich auch entsprechend angepasst. Erst das Draußensein erfordert und ermöglicht doch andere Verhaltensweisen als die, „Insasse“ oder Patient zu sein. Erst hier steht diese Art der institutionellen Hilfen doch wirklich auf dem Prüfstand. Müssen wir uns also noch fragen, warum es so viele nicht schaffen, hier wieder herauszufinden? – Das psychiatrische System speist sich so aus sich selbst, schafft sich seinen eigenen Bedarf. Es entsteht ein Kreislauf zwischen dem stationären, teilstationären und ambulanten Sektor, der immer neue psychiatrisch-administrative Probleme erzeugt, inklusive seiner institutionellen Scheinlösungen. Die an der tatsächlichen Bedarfslage vorbeigehenden und Fehlentwicklungen provozierenden gesetzlichen Grundlagen für diese Art von Hilfen tun hier ein übriges. Psychosozial ist das alles schon längst nicht mehr, oder nur noch insofern, als Psychiatrie eben auch ein Teil der öffentlichen Armutsverwaltung ist.
„Kann man denn Armut psychiatrisch behandeln?“
Nein, aber sie lässt sich psychiatrisieren, und das ist das Gegenteil von heilen und von Freiheit.
Chronizität rührt immer von einem nicht richtig erkannten Hilfebedarf her, der folglich auch nicht mit den angemessenen Hilfen beantwortet werden kann. Ist aber erst einmal ein solcher verfestigter Zustand erreicht, potenziert sich natürlich auch der Hilfebedarf, oder besser die Hilflosigkeit. Psychisches Leiden kann man aber grundsätzlich nicht mit einem institutionalisierten Angebot lindern, allenfalls verwalten. Chronizität ist von Chronos, dem griechischen Begriff für Zeit abgeleitet. Das bedeutet also, medizinisch betrachtet, dass eine Erkrankung im Laufe der Zeit unbehandelbar wird, sich also verschlimmert, wenn ihre Behandler den Faktor Zeit außer acht lassen, die einzelnen angewandten Behandlungsschritte oder Therapien nicht zeitlich befristet sind, wovon eine Behandlung, die den Anspruch auf Wirksamkeit stellt, eigentlich ausgehen müsste.
Wirksamkeit verstehe ich dabei als das bloße in Gang setzen oder Anstoßen einer Wirkung, um Selbsthilfe oder -heilung zu ermöglichen. Wenn dann nach einer gewissen Zeit keine Besserung erkennbar ist, muss eben diese Art der Intervention beendet und eine andere versucht werden. Wenn aber nicht so vorgegangen wird, kann denn dann überhaupt eine Behandlung, die diese Bezeichnung verdient, stattgefunden haben? – Ich glaube, es ist nicht völlig falsch, dieses medizinisch/stoffliche Denkmodell auf die Gegebenheiten in der Psychiatrie zu übertragen.
Was hilft also? – Vielleicht letztlich wirklich nur das, was dem Erkrankten an Hilfemöglichkeiten aus sich selbst heraus (Empowerment) zur Verfügung steht. Wobei diese Möglichkeiten aufzuspüren, wohl umfassende therapeutische Wegbegleitung erfordert, die in der Hauptsache darin bestehen wird, ihn, den Patienten immer wieder zu ermutigen, genau diesen, den für ihn einzig richtigen Weg zu gehen. Wobei der ursprünglich eingeschlagene, nämlich die Erkrankung selbst, manchmal wichtige Hinweise auf die Wegfindung zur Heilung in sich bergen kann. Vielleicht wird vielen Hilfesuchenden aber auch dabei schon klar, dass der Weg bereits das Ziel ist. Das bedeutet, das „Auf dem Weg sein“ ist bereits die gesuchte, glücklichere Lebensform, ein Mittel gegen Stillstand, Rückzug und Resignation.
„Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott.“
Eine populäre und immer wieder gern zitierte Volksweisheit, dieser Spruch. Ist das nun die Redensart von eigentlich Gleichgültigen, die mit dem, was andere betrifft, im Grunde nichts zu tun haben wollen, oder was ist dran, an dieser die Eigeninitiative dermaßen in den Himmel hebenden „Heilslehre“? Was bedeutet sie für diejenigen, die nun mal mit ihren Problemen und inneren Konflikten nicht mehr allein fertig werden und sich Hilfe vom psychiatrischen System erhoffen, was für deren ratlose und vielleicht selbst gefährdete Angehörige und was für die sich vielleicht überfordernden Helfer?
Wenden wir sie erst einmal auf die Psychiatrie-Erfahrenen an, so denke ich in erster Linie an die wachsende Zahl der Selbsthilfegruppen innerhalb und außerhalb des psychiatrischen Systems. Sie bekommen Zulauf von jenen, deren innerer Impuls zur Selbsthilfe und zur Selbstbestimmung in der Psychiatrie noch nicht erstickt wurde, oder als gesunde Reaktion auf deren entmündigende Tendenz wiedererwacht ist, als der „Göttliche Funke“ sozusagen. Wirkprinzip dieser Organisationsform ist die individuelle Stärkung des Einzelnen durch den Zusammenschluss von in ähnlicher Weise Betroffenen. Selbsthilfegruppen bilden eine sinnvolle und notwendige Ergänzung zum professionellen Hilfesystem im Bereich der Vor- und Nachsorge. Professionelle psychiatrische Behandlung greift vor allem in der Akutphase einer Erkrankung. Die bestehenden „tagesstrukturierenden Angebote“ der institutionellen psychiatrischen Vor- und Nachsorge halte ich dagegen wegen ihrer Tendenz zur abhängig machenden Vollversorgung ihrer „Nutzer“ für eher schädlich.
Wirksamen Schutz vor einem Rückfall bietet also nur ein umfassende Umgestaltung der krankheitsauslösenden persönlichen Lebenssituation und eine Änderung der inneren Einstellung zu sich selbst. Dies kann natürlich nicht von heute auf morgen geschehen, sondern ist Ziel einer langfristigen schrittweisen persönlichen Entwicklung und selbstverständlich nicht Aufgabe der Psychiatrie, sondern, wenn überhaupt, von begleitender Psychotherapie. Eine therapeutische Bindung an die behandelnde Einrichtung über die Akutphase hinaus behindert ebenfalls m. E. eher eine solche Entwicklung, als dass sie diese fördert, da jene immer aus der institutionalisierten, die Eigeninitiative blockierenden Versorgerrolle heraus tätig wird, ganz gleich, um was es geht. Befreiendes Ziel aber ist und bleibt die umfassende Selbstsorge.
Selbsthilfegruppen sind Anlauf- und Beratungsstelle für Gefährdete und Genesende, also der Menschen, die sich zu Recht von der Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppierung eine Stabilisierung ihrer psychischen Situation, Hilfe im Alltag und bei der Entwicklung einer Zukunftsperspektive erhoffen. Sie sind soziales Lernfeld und eine notwendige Erweiterung ihres mitmenschlichen Bezugssystems. Mit dem psychischen Zusammenbruch und dem Ausbruch einer psychischen Erkrankung geht oftmals die Gefährdung bzw. der Verlust des persönlichen Bezugssystems einher. Nach einem Klinikaufenthalt wird der mit einer psychischen Erkrankung verbundene gesellschaftliche Makel offenbar, ist die bisherige soziale Stellung, auch die innerhalb der Familie gefährdet, und man spielt für lange Zeit, vielleicht auch für immer eine Außenseiterrolle. Da kann die Zugehörigkeit zu einer Selbsthilfegruppe, zeitweise oder auf Dauer, das entstandene soziale Vakuum fürs erste ausfüllen, der Ort sein, wo man wieder Ansprechpartner findet, wo man unter seinesgleichen ist.
Das eben gesagte lässt sich ohne weiteres auf die Situation der Angehörigen psychisch Kranker übertragen. Die Selbstbefreiung aus der Abhängigkeit von ihrem als krank angesehenen und dementsprechend schonend behandelten Angehörigen und die vollzogene innere Abgrenzung zu den oftmals verzweifelt als alleinige „Heilsbringer“ hochstilisierten professionellen Helfern, würde vielleicht sowohl ihnen, als auch ihrem erkrankten Angehörigen jenen heilsamen Spielraum für eigenes Handeln und Verantworten verschaffen können, der allein Aussicht auf ein erträgliches familiäres Zusammenleben bringen könnte, so lange dies denn noch möglich wäre. Die beste, weil für alle Beteiligten Entwicklungsmöglichkeiten eröffnende Form der Unterstützung ihres erkrankten Angehörigen liegt m. E. demnach in der sich abgrenzenden Achtsamkeit für sich selbst. Auch hierfür ist die Selbsthilfegruppe (für Angehörige) der richtige Ort des voneinander Lernens.
„Und die Profis, was ist mit deren Befreiung und Heilung?“
Auch hier wird m. E. der Blick auf die eigene Person zum entscheidenden Instrument der Selbsthilfe. Wir alle kennen die Berichte von sich bis an den Rand des Zusammenbruchs überfordernden Klinikärzten und anderen „Engeln in weiß“ aus den Medien. Dramatisch dargeboten und mit schönen Menschen besetzt, ist diese vermeintlich heroische und Aufopferung signalisierende Haltung denn auch geradezu das Salz in der Suppe der so beliebten „Weißen Serien“ im TV. Die Wirklichkeit, d. h. der notwendige Blick auf die Kehrseite offenbart etwas anderes, auch in der Psychiatrie: Zum Glück erfahren wir aus denselben Medien eben auch etwas über die Auswirkungen dieses meist von wirtschaftlichen Zwängen innerhalb der Institution herrührenden Leistungsdrucks seitens der Klinikleitungen und der damit einhergehenden Selbstüberschätzung beim medizinischen Personal.
Gefühle des Ausgebranntseins und Behandlungsfehler bis hin zum psychotischen Fehlverarbeiten von anders nicht mehr beherrschbaren Versagensängsten in Form von vermeintlich heilsbringenden Patiententötungen sind, wie wir wissen, im schlimmsten Fall die Folge. Im großen Stil geschahen solche Patiententötungen in der Psychiatrie und in anderen, vom Dogma der Unheilbarkeit betroffenen medizinischen Bereichen bekanntlich in der Zeit der „Kollektivpsychose“ des Nazi-Regimes. Heilsam und human wäre hier vor allem eine Rückbesinnung aller Beteiligten auf die Unvollkommenheit und Begrenztheit allen menschlichen Seins, also auch des medizinischen und des psychiatrischen Handelns gewesen. Aber dies hätte gleichzeitig wohl auch die Anerkennung der Individualität des Einzelnen und demnach auch die gesellschaftliche Akzeptanz individuellen behinderten Lebens bedeutet, was aber vermutlich nicht mit dem, Abweichungen jeglicher Art ausschließenden Allmachtsanspruch einer Diktatur und den damals vorherrschenden Wertvorstellungen der unter ihr lebenden Gesellschaft zu vereinbaren gewesen wäre.
Und heute? – Eine dem sehr ähnelnde aktuelle Gefährdung des Selbstverständnisses der Heilberufler, auch der psychiatrisch tätigen, könnte sich durch die, neue Wege in der Krankheitsbekämpfung auftuende Gentechnik samt ihrer von vielen erhofften, von anderen aus gutem Grund befürchteten Möglichkeiten der Früherkennung und der vorgeburtlichen Diagnostik entstehen, wenn diese all das tun würden, was voraussichtlich möglich sein wird und folglich auch von ihnen verlangt werden wird. Auch diese Entwicklung, vor allem unter dem sich im Zeichen der sogenannten „Bioethik“ derzeit offenbar wandelnden Ethikverständnis, könnte wiederum nur allzu leicht in die Bekämpfung der Erkrankten und Behinderten umschlagen.
Medizingläubigkeit in der Psychiatrie, welche einseitig auf die Verabreichung und Dauermedikation von Psychopharmaka als einziger Hilfemöglichkeit setzt und gleichzeitig damit den Betroffenen eine bloß passive, konsumierende Rolle zuweist, verhindert damit, dass andere Wege zur möglichen Heilung, solche, die Selbständigkeit und Eigenverantwortung fördern und voraussetzen, überhaupt gesehen, geschweige denn erprobt werden können. „Hilfe zur Selbsthilfe“, ein in den anderen Medizinzweigen durchaus zur Anwendung kommender Heilungsgrundsatz, im Bereich der Psychiatrie scheint er bisher weitgehend unbekannt geblieben zu sein.
Rollenspiel: Ich als Patient
Psychiatrisch, überhaupt medizinisch behandelt zu werden ist etwas, was von mir als Patient entweder passiv erduldet, aktiv unterstützt oder brüsk abgelehnt werden kann, bisweilen also auch gegen meinen Willen passiert, zumindest in der Psychiatrie. Für gewöhnlich entscheide ich mich bei entsprechendem Leidensdruck, sei der nun psychischer oder mehr körperlicher Natur, für die mich erst einmal entlastende, kooperative, jedoch auch Zuwendung einfordernde Patientenrolle. D. h., ich versuche zumindest diesen Leidensdruck meinen Behandlern gegenüber glaubhaft zu machen, auf möglichst alle Fragen zu antworten und im übrigen meinen Hilfebedarf und meine eigene Hilflosigkeit überzeugend zum Ausdruck zu bringen. Handelt es sich dabei jedoch um eine Psychose, also um einen Zustand des inneren Steuerungsverlustes, habe ich es selbst naturgemäß nicht mehr in der Hand, welche Informationen ich gebe und welche nicht. Mein Zustand wird offenbar mit allem, was ich äußere, aber auch meine Schutzlosigkeit.
Entweder finde ich nun den Schutz, den ich brauche, oder ich habe das Pech, dass mein Zustand von anderen selbst als Bedrohung empfunden wird, z. B. dadurch, dass meine nicht mehr beherrschbare Angst in der Maske der Aggression auftritt, und ich auf meine Mitmenschen dadurch selbst beängstigend wirke. Dann wird dadurch höchstwahrscheinlich etwas in Gang gesetzt, was meinen disparaten Zustand endgültig zur Höllenfahrt werden lässt: die Zwangseinweisung. Das bedeutet, psychiatrische Behandlung bei gleichzeitigem Freiheitsentzug. Ist mir bereits in der Psychose die gewohnte Alltagsidentität abhanden gekommen, verliere ich nun auch noch durch den Einsatz polizeilicher bzw. behördlicher Gewalt gänzlich die Selbstbestimmung über das, was mit mir geschieht und darüber, wo dies geschieht. Ist eine abgründigere, beängstigendere Verunsicherung überhaupt vorstellbar?
Am Behandlungsort, in einem solchen Fall die psychiatrische Klinik, findet dann dieses persönliche Drama, sein vorläufiges, meist medikamentös herbeigeführtes Ende in der anonymen Atmosphäre einer Akutstation, in der ich mich zwischen denen wiederfinde, die gleichermaßen ruhiggestellt sind, vielleicht auch ähnliches erlebt haben, die mir aber im übrigen völlig fremd sind, einschließlich der für diesen Bereich zuständigen Ärzte und PflegerInnen. Handelt es sich jedoch um eine erneute Aufnahme, treffe ich dort u. U. sogar „alte Bekannte“, habe aber noch weniger die Gewähr dafür, angemessen und respektvoll behandelt zu werden. Man gibt vor, mich zu kennen, verwechselt dies aber meist mit dem Vorurteil, das man von mir hat oder mit dem, was über mich bereits in den Akten steht. Das ist kein Wiedererkennen, sondern die Kenntlichmachung oder auch der Beginn der Stigmatisierung.
Wenn ich nun wieder den Blick auf die Angehörigen psychisch Erkrankter richte, kann ich einmal auf Beobachtungen in der Familie, in der ich selbst aufgewachsen bin zurückgreifen und auf Eindrücke, die ich im Umgang mit Angehörigen von Mitbetroffenen gewonnen habe. Es ergibt sich daraus selbstverständlich kein festes Bild, aus dem man schließen könnte, so und nicht anders sind Angehörige.psychisch Kranker. Ein sich mit der Zeit verfestigender Eindruck ist aber der, dass viele ihre Rolle oft überinterpretieren und dabei irgendwie den Eindruck von Unausgewogenheit oder des Angespanntseins hinterlassen. Entweder wirken sie auf mich zu behütend und reglementierend oder sie sind zu stark auf Abgrenzung gegenüber ihrem erkrankten Angehörigen bedacht. Es treten glaube ich, auch nicht selten beide Übertreibungen gleichzeitig in einem Familienverband auf.
Woran liegt das, woher rührt dieser Eindruck? Ich glaube, in ihm spiegelt sich die ganze Verunsicherung und Überforderung wieder, die in einer Familie entsteht, wenn erst einmal bei einem seiner Mitglieder alle Dämme gebrochen sind, wenn dessen Verrücktheit offen zu Tage getreten ist, und das nicht mehr zur Selbstkontrolle fähige Familienmitglied womöglich zu einer Gefahr für das bisher ungestörte, vielleicht aber auch nur noch mühsam aufrecht erhaltene öffentliche Bild von Familiennormalität geworden ist. Denn wie begegne ich als Angehöriger denn der Gefahr, die darin liegt, dass von einem mir nahestehenden Menschen das bisher nach innen Schutz und nach außen Ansehen bietende Sozialgefüge Familie in Frage gestellt wird; was, wenn gar dessen öffentliche Preisgabe droht? – Einerseits bin ich selbst rat- und hilflos gegenüber dem auf mich bedrohlich wirkenden psychischen Zustand meines erkrankten Angehörigen, dem ich mich aber gleichzeitig zur Hilfe und zum Beistand verpflichtet fühle. Andererseits möchte ich alles tun, um diese hautnah verspürte Gefahr, die meiner gesamten übrigen Familie von diesem einzelnen Mitglied droht, abzuwenden. Sehe ich überhaupt noch eine andere Möglichkeit um mit dieser Situation fertig zu werden, als Hilfe und Verstärkung von außen herbeizuholen und nach Instanzen zu rufen, von denen ich weiß, dass diese in solch einem Fall zur Hilfe verpflichtet sind und gleichzeitig die Ordnung wieder herzustellen vermögen, nämlich nach Polizei und Psychiatrie?
So gesehen geben Angehörige in ihrem Verhalten ein zutreffendes Bild der im psychiatrischen System, vielleicht sogar der in der Gesellschaft selbst bestehenden Verhältnisse wieder, zumindest was die Beziehung zu deren Minderheiten oder Außenseitern bzw. die Position der Psychiatrie zu ihren Patienten betrifft. Es ist in jedem Fall ihre janusköpfige Erscheinungsform, die solche Brüche zum Vorschein bringt. Kann die Psychiatrie wirklich, ohne das eine durch das andere zu gefährden, diese von ihr geforderte Doppelrolle spielen: einmal die der Zuwendung gebenden, selbstlosen Beschützerin und Helferin, andererseits die, der mit staatlichen Befugnissen ausgestatteten Ordnungshüterin? – Ich glaube, dass die Vermischung beider Rollen, und dies ist Psychiatriealltag, ein hohes Risiko der Unglaubwürdigkeit mit sich bringt, zu Spaltungen und zum Verlust der Ganzheitlichkeit führt. Im System und bei dem einzelnen psychiatrischen Funktionsträger, und dass diese Doppelfunktion vielleicht sogar der größte Hemmschuh bei der Verwirklichung einer grundlegenden Psychiatriereform ist.
Mit Ganzheitlichkeit meine ich in dem Fall die von vielen Psychiatrie-Erfahrenen in der Behandlungssituation vermisste Authentizität oder Unmittelbarkeit im Umgang mit ihnen. Eine zu Recht erhobene Forderung, wie ich finde, die im Gegensatz steht zu der in der Praxis oft demonstrierten Distanziertheit seitens der psychiatrisch Tätigen. Man führe sich doch einmal vor Augen, dass solche Begegnungen regelhaft in einer Situation stattfinden, in welcher der eine Partner in dieser Begegnung vor einem existenziellen Scherbenhaufen steht, vielleicht sogar versucht hat, seinem Leben ein Ende zu setzen. Was denn anderes als Mitmenschlichkeit und ungeteilte Zuwendung kann denn da wohl gefragt sein? Das aber stellt in der Tat Anforderungen an die Mitarbeiter/innen in der Psychiatrie – im übrigen auch an die Selbsthilfegruppen – denen so manche/r möglicherweise nicht gewachsen ist.
In dem Zusammenhang ist es auch an der Zeit, auf ein scheinbar unausrottbares Missverständnis oder eine hartnäckige Fehlinterpretation seitens vieler psychiatrisch Tätiger hinzuweisen, wann immer von „professioneller Distanz“ die Rede ist: Hier ist keineswegs das innere Abstandhalten zum Patienten gemeint, sondern, im Gegenteil, eher zu sich selbst. In der Weise, dass psychiatrisch Tätige nicht ihre eigenen Unwägbarkeiten, Wünsche und Ängste für die des Patienten halten, sondern diese davon abzugrenzen und zu unterscheiden wissen. Fehlt es aber an dieser Fähigkeit, kann das nur als ein Mangel an persönlicher Autonomie oder innerer Freiheit gedeutet werden. Dies wird sich früher oder später als ein Defizit in der therapeutischen Arbeit erweisen, die doch gerade darin besteht, andere dazu zu befähigen, diese ihnen abhanden gekommene innere Freiheit wiederzuerlangen.
Von der Mitspielerrolle der psychiatrischen Institution und ihrer möglichen Überwindung
Der Psychiatrie, die in der Öffentlichkeit gleichzeitig als heilende medizinische Instanz und Ordnungsmacht erscheint, und mit weitgehenden Befugnissen gegenüber dem Einzelnen ausgerüstet ist, u. a. der Durchsetzung von gerichtlich angeordneten freiheitsentziehenden Maßnahmen, wird im öffentlichen Bewusstsein, entsprechend dieser Rolle, ein hohes Kompetenzmaß zugesprochen. Wie soll ich als Einzelner und gleichzeitig Hilfebedürftiger einer solch mächtigen Institution gegenübertreten, wie meine Individualität und Freiheitsrechte ihr gegenüber wahren; wie mich in einem Raum bewegen, der nach außen mit meist nicht zu öffnenden Fenstern versehen ist, und der es mir nicht gestattet, mich ohne ausdrückliche Erlaubnis der dort Beschäftigten oder ohne ihre Begleitung, wenn auch nur kurzzeitig, aus ihm zu entfernen? Hier kann ich doch nur Gefangener unter Gefangenen sein, in mehrfacher Hinsicht: Unzugänglich in dem psychischen Zustand verharrend, der mich hierhin gebracht hat, und zusätzlich geschockt, wenn nicht gar traumatisiert, von den oftmals furchteinflößenden, kein Entkommen mehr ermöglichenden Umständen meiner Einweisung. Dabei von Menschen umgeben, die ich nicht kenne, die auch nicht das Wort an mich richten, sondern mich Verwirrten erst einmal nur beobachten und zum überwiegenden Teil selbst verwirrt, traurig, oder von innerer Unruhe getrieben scheinen, und die mir quasi einen Spiegel vorhalten: „Sieh’ hin, das bist du nun, ein dir selbst fremd Gewordener.“ Zuvor bin ich möglicherweise in unbekleidetem Zustand neurologisch untersucht und dabei in etwas zu lautem Ton auf meine augenblickliche geistige Befindlichkeit geprüft worden.
Angst führt zur Verdrängung dessen, was ängstigt und hiervon durchtränkt ist in dieser Situation so ziemlich alles: die fremden Gesichter, die unwirtlichen, unbekannten großen Räume, die vielen Gänge und Türen, von denen ich nicht weiß, wo sie hinführen; das sich verstärkende Empfinden des Ausgeliefertseins und das Gefühl des zunehmenden Verlustes von Selbstbestimmung. Unter diesen Eindrücken stehend, muss ich mich dann abermals einem ärztlichen Gespräch stellen, in dem ich Angaben zur Person, zu Vorerkrankungen und zum Einweisungsgrund machen muss und erzählen soll, warum es mir gerade so schlecht geht. Weiß ich das denn überhaupt noch? – Das nun einsetzende Ringen um Worte und Fassung zeigt mich als einen Menschen, der sich nur noch als ein kontur- und willenloses Bündel empfindet, und wahllos jeden hingehaltenen Strohhalm zu seiner Rettung vor dem endgültigen Selbstverlust ergreift. Nun bin ich endlich angekommen, bin ersatzweise erst einmal selbst Teil der mich behandelnden Institution geworden, bis es mir irgendwann wieder gelingt, mich auf mich selbst zu besinnen, mich wieder als wirkliche Person zu begreifen. Und erst jetzt kann ich sagen, warum ich eigentlich hier bin, auf Ansprache mit halbwegs überlegter Erwiderung antworten.
Aber hätte es dazu wirklich in jedem Fall dieses langen Weges bedurft, um wieder zu mir selbst zu kommen? Wahrscheinlich nicht. Denn ich habe an meine zurückliegenden Kontakte mit den verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen, keineswegs nur solche bedrückenden Erinnerungen. Es gab zum Glück dort überall und immer wieder, neben der Vielzahl seltsam anonym gebliebener Kontaktpersonen, auch vereinzelte Begegnungen mit Menschen, die es schafften, mit mir dort wirklich ins Gespräch zu kommen; die sich gegen die Dominanz der Institution zu behaupten wussten und zu denen ich Vertrauen fassen konnte. Was es war, was sie auszeichnete? Nun, sie wussten wohl alle, unabhängig von ihrer Stellung innerhalb der Hierarchie, um die Begrenztheit ihrer Möglichkeiten mir wirklich zu helfen, und brachten das auch immer wieder zum Ausdruck. Aber damit verbunden war auch immer mehr oder weniger deutlich die wichtigere Botschaft: „Wirkliche Hilfe findest du nur in dir selbst; mach’ dich also auf den Weg.“
Inzwischen weiß ich, dass sie recht hatten. Es ist die nicht bevormundende, wirkliche Angebote bzw. Vorschläge machende Hilfe, die nicht auf die Annahme drängt, sondern wartet, bis du das dir Gemäße herausgefunden hast. Es ist das Menschenmögliche, aber das sollte dann auch geschehen. Erst wenn alle Beteiligten, auch die Psychiatrie-Erfahrenen anfingen, ihre angenommene Rolle und ihre Funktion im Zusammenspiel des herrschenden psychiatrischen Systems kritisch zu hinterfragen; erst wenn Psychiater aufhörten, nach Betten zu zählen, wenn die Krankenpflegekräfte in der Psychiatrie es lernten, mit sich selbst pfleglich umzugehen, und sich nicht weiter als nachrangig empfänden; wenn Sozialarbeiter und -pädagogen mit der Selbsterziehung nicht aufhörten, wenn Angehörige ihre Abhängigkeit erkennen würden, und nur noch sich selbst gehörten – wenn alle sich fragten, was machen wir eigentlich hier, wir haben doch die Wahl – dann beginnt vielleicht ein neues Kapitel in der noch jungen Geschichte der Psychiatrie. Nennen wir es doch ganz einfach “Die Psychiatriereform“.
Lothar Bücher (2001)